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„Sie [die LehrerInnen] müssen darauf bestehen, daß sie mit Kindern umgehen, und das heißt mit Men­schen, die die grundsätzliche Fähigkeit haben, sich selbst zu entscheiden, ihre Interessen zu erkennen, sich für sich selbst einzusetzen, kurzum: deren Tun und Lassen von einem persönlichen Sinn gesteuert ist.“ (254)

„Die Fassungslosigkeit, die Empörung, die Beklagung der offensichtlichen Sinnlosigkeit solcher Verhal­tens­weisen ist deshalb der notwendige und erste Schritt, der dazu führt, nach tieferen Verstehensweisen zu suchen. Nämlich nach solchen Verstehensweisen, die darauf beharren, daß auch ein scheinbar sinnloses Verhalten subjektiv sinnvoll sein muß.“ (254f.)

(Reiser, Helmut (1993): Entwicklung und Störung – Vom Sinn kindlichen Verhaltens.
In: Behindertenpädagogik, Jg. 32, H. 3, S. 254–263.)

Oder – um es mit Kästner zu sagen:

(…) Es war noch Pause. Sie kletterte in die erste Etage und fragte einen Jungen, wo das Lehrerzimmer sei. Er führte sie hin. Sie klopfte. Weil niemand öffnete, klopfte sie noch einmal, und zwar ziemlich heftig.
Da ging die Tür auf. Ein großer, junger Herr stand vor ihr und kaute eine Stulle.
»Schmeckt’s?«, fragte Pünktchen.
Er lachte. »Und was willst du noch wissen?«
»Ich beabsichtige, Herrn Bremser zu sprechen«, erklärte sie. »Mein Name ist Pogge.«
Der Lehrer kaute hinter und sagte dann: »Na, da komm mal rein.« Sie folgte ihm, und sie kamen in ein großes Zimmer mit vielen Stühlen. Auf jedem der vielen Stühle saß ein Lehrer, und Pünktchen kriegte bei diesem schauerlich schönen Anblick Herzklopfen. Ihr Begleiter führte sie ans Fenster, dort lehnte ein alter, dicker Lehrer mit einer uferlosen Glatze. »Bremser«, sagte Pünktchens Begleiter, »darf ich dir Fräulein Pogge vorstellen? Sie will dich sprechen.«
Dann ließ er die  beiden allein.
»Du willst mich sprechen?«, fragte Herr Bremser.
»Jawohl«, sagte sie. »Sie kennen doch den Anton Gast?«
»Er geht in meine Klasse«, erklärte Herr Bremser und guckte aus dem Fenster.
»Eben, eben«, meinte Pünktchen befriedigt. »Ich sehe schon, wir verstehen uns.«
Herr Bremser wurde langsam neugierig. »Also, was ist mit dem Anton?«
»In der Rechenstunde eingeschlafen ist er«, erzählte Pünktchen. »Und seine Schularbeiten gefallen Ihnen leider auch nicht mehr.«
Herr Bremser nickte und meinte: »Stimmt.« Inzwischen waren noch ein paar andere Lehrer hinzugetreten, sie wollten hören, was es gebe.
»Entschuldigen Sie, meine Herren«, sagte Pünktchen, »wollen Sie sich bitte wieder auf Ihre Plätze begeben? Ich muss mit Herrn Bremser unter vier Augen sprechen.«
Die Lehrer lachten und setzten sich wieder auf ihre Stühle. Aber sie sprachen fast gar nicht mehr und spitzten die Ohren.
»Ich bin Antons Freundin«, sagte Pünktchen. »Er hat mir erzählt, Sie wollten, wenn das so weiterginge, seiner Mutter einen Brief schreiben.«
»Stimmt. Heute hat er sogar während der Geographiestunde ein Oktavheft aus der Tasche gezogen und darin gerechnet. Der Brief an seine Mutter geht heute noch ab.«
Pünktchen hätte gern einmal probiert, ob man sich in der Glatze von Herrn Bremser spiegeln konnte, aber sie hatte jetzt keine Zeit. »Nun hören Sie mal gut zu«, sagte sie. »Antons Mutter ist sehr krank. Sie war im Krankenhaus, dort hat man ihr eine Pflanze herausgeschnitten, nein, ein Gewächs, und nun liegt sie seit Wochen zu Haus im Bett und kann nicht arbeiten.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Herr Bremser.
»Nun liegt sie also im Bett und kann nicht kochen. Aber jemand muss doch kochen! Und wissen Sie, wer kocht? Anton kocht. Ich kann Ihnen sagen, Salzkartoffeln, Rührei und solche Sachen, einfach großartig!«
»Das wusste ich nicht«, antwortete Herr Bremser.
»Sie kann auch seit Wochen kein Geld verdienen. Aber jemand muss doch Geld verdienen. Und wissen Sie, wer das Geld verdient? Anton verdient das Geld. Das wussten Sie nicht, natürlich.« Pünktchen wurde ärgerlich. »Was wissen Sie denn eigentlich?«
Die anderen Lehrer lachten. Herr Bremser wurde rot, über die ganze Glatze weg.
»Und wie verdient er denn das Geld?«, fragte er.
»Das verrate ich nicht«, meinte Pünktchen. »Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass sich der arme Junge Tag und Nacht abrackert. Er hat seine Mutter gern, und da schuftet er und kocht und verdient Geld und bezahlt das Essen und bezahlt die Miete, und wenn er sich die Haare schneiden lässt, bezahlt er’s ratenweise. Und es wundert mich überhaupt, dass er nicht während Ihres ganzen Unterrichts schläft.« Herr Bremser stand still. Die anderen Lehrer lauschten. Pünktchen war in voller Fahrt. »Und da setzen Sie sich hin und schreiben seiner Mutter einen Brief, dass er faul wäre, der Junge! Da hört sich doch Verschiedenes auf. Die arme Frau wird gleich wieder krank vor Schreck, wenn Sie den Brief schicken. Vielleicht kriegt sie Ihretwegen noch ein paar Gewächse und muss wieder ins Krankenhaus! Dann wird der Junge aber auch krank, das versprech ich Ihnen! Lange hält er dieses Leben nicht mehr aus.«
Herr Bremser sagte: »Schimpf nur nicht so sehr. Warum hat er mir denn das nicht erzählt?«
»Da haben Sie Recht«, meinte Pünktchen. »Ich habe ihn ja auch gefragt, und wissen Sie, was er gesagt hat?«
»Na?«, fragte der Lehrer. Und seine Kollegen waren wieder von den Stühlen aufgestanden und bildeten um das kleine Mädchen einen Halbkreis.
»Lieber beiß ich mir die Zunge ab, hat er gesagt«, berichtete Pünktchen. »Wahrscheinlich ist er sehr stolz.«

(Erich Kästner (1999): Pünktchen und Anton.
117. Aufl. Hamburg: Cecilie Dressler Verlag )

(22. Juli 2oo8)

heute nacht ist mir noch mal eine mail von thomas häcker in den sinn gekommen, in der er mir einige fragen zu schülerinteressen/-initiativen etc. beantwortet hatte. folgender ausschnitt hat jetzt (nach beendigung des schulprojekts aber auch hinsichtlich meiner forscherfrage) eine für mich ganz neue relevanz erhalten! ich zitiere:

Vor diesem Hintergrund habe ich in meiner Habilschrift versucht, einen aus meiner Sicht einigermaßen handhabbares und lebbares Konzept vorzuschlagen, welches ich in drei Prinzipien gepackt habe (Kap. 7.4.1 oder so ähnlich). Sie lauten:

1. Es gibt im Unterricht einen Vorrang der Schüler/in vor der Lehrer/in.
Das ist eine ganz prinzipielle Feststellung, die mir für einen subjektbezogenen Unterricht wichtig ist. Dieses Prinzip muss aber unbedingt ergänzt werden durch das zweite Prinzip.

2. Es gibt im Unterricht einen Vorrang des Inhalts vor der Beliebigkeit.
Unterricht soll aus meiner Sicht inhaltlich nicht beliebig sein. Deshalb gibt es auch so etwas wie eine Initiative der Lehrperson. Von dieser müssen und sollen Angebote kommen, denn es liegt in ihrer Verantwortung, die Kinder mit Aspekten der Welt in Berührung zu bringen, mit denen sie von sich aus möglicherweise nicht in Berührung kommen würden. Schließlich knüpfe ich an Thomas Rihm an und gehe aus meiner Sicht in eine andere Richtung noch etwas weiter:
„In Erweiterung des Konzeptes von Rihm (2003b), der aus subjektbezogener Perspektive einen Vorrang von Schülerinitiativen im Unterricht postuliert, muss auch für die Lehrer/in ein Initiativraum postuliert werden, der dann greift, wenn Initiativen seitens einzelner Schüler/innen ausbleiben und der Lehrer/innen eine zumindest grobe Orientierung in der notwendigerweise offenen Frage des didaktischen Eingriffes gibt. Dies lässt sich in einem weiteren, differenzierenden Postulat zum Ausdruck bringen:

3. Es gibt im Unterricht einen Vorrang der Schüler/inneninitiative vor der Lehrer/inneninitiative.“

ps:
Thomas Häcker (2007): Portfolio: ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen. Eine explorative Studie zur Arbeit mit Portfolios in der Sekundarstufe I. 2. überarb. Aufl. Hohengehren: Schneider (= Schul- und Unterrichtsforschung; Bd. 3).

Wenn aber Rechtschreibung und Zeichensetzung mehr Zeit gekostet haben, als die Auseinandersetzung mit Liebe, Frieden, Freiheit, Solidarität, Glück & Tod - und dann nicht mal gekonnt werden - , dann sollten Heranwachsende eine solche »Bildungsinstitution« nicht mehr so wichtig nehmen...

(Herbert Gudjons 2003, 207)

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